Ausnahmsweise nur auf Hochdeutsch (steht später unter Projekte/From Book zum Buch)

Unter Freunden

Unter der US-Flagge: Pfarrer Nils Schellhaas (rechts) und die Kirchenvorstandsvorsitzende Regina Pfeiff mit Ruth, Sam und mir.

Ruth Stern Gasten 

und Sam Stone auf Deutschlandreise

 

“Willkommen in Nieder-Ohmen!” Vor dem evangelischen Gemeindehaus hat Pfarrer Nils Schellhaas eine kleine US-Flagge gehisst. Alles ist bereit für den Besuch von Ruth Stern Gasten, die Sterne und die Streifen, aber auch Blumen, Beamer und Bruuddägsmaddekuche (Brotteigsquarkkuchen), wie man den Salzekuchen in Mücke nennt.

 

 

Ruth Stern Gasten ist wieder zu Hause, weit weg von daheim. Die Kalifornierin hat die ersten fünf Jahre ihres Lebens im Vogelsberg verbracht. Ihre Eltern waren orthodoxe Juden, wobei sich ihre Mutter strenger an die religiösen Regeln hielt als ihr Vater, der seine Tochter in Chicago

Ruth (von rechts) mit Sam, Veronika und Sara beim Salzekuchenessen.

am Sabbat ins Museum gehen ließ und gerne „Stille Nacht, heilige Nacht“ sang. Koscher ernährt sich Ruth Stern Gasten schon lange nicht mehr. „Wir essen alles“, hat sie ihre Gastgeber wissen lassen. Alles, sogar den Räucherspeck, der auf den Salze- oder Schmierschelkuchen gehört und den ganz Unorthodoxe sogar in das jüdische Kartoffelgericht Schalet mischen (siehe das Rezept in Band 1 über Ober-Gleen).

Auf die Welt gekommen ist die Tochter des Viehhändlers Joseph Stern und seiner Frau Hannah, geborene Nußbaum, am 28. August 1933 in einem katholischen Krankenhaus in Fulda.

Ruth an der Schautafel in Nieder-Ohmen.

„Meine Mutter hat mir erzählt, die Nonnen waren sehr nett zu ihr“, erwähnt Ruth Stern Gasten auf der Fahrt durch den Vogelsberg. Auf den Wiesen Rinder und Pferde, Rehe, auch einer der seltenen Schwarzstörche. In den Gärten Dahlien. Fachwerkdörfer und Mischwälder wechseln sich ab, und ihr fehlen die Worte für die Baumarten und den alten Baustil. Seit Jahrzehnten spricht sie Englisch, aber wenn sie in ihre Muttersprache wechselt, dann verfällt sie hin und wieder, ohne es zu merken, in den Dialekt, sagt „mir hawwe“ anstatt „wir haben“ und „Kwedschekùche“ anstatt Pflaumenkuchen. Wie damals daheim.

Als Erste ihrer Familie setzt die Enkelin von Fannie Nußbaum seit der Nazizeit wieder einen Fuß in den Ortsteil von Steinau an der Straße. Ihr Lebensgefährte Sam Stone, Justus Randt und ich, die ich Ruth Stern Gastens Kindheitsmemoiren „An Accidental American“ ins Deutsche übersetzt habe, begleiten sie auf dieser Reise. Horst Kunz vom Heimat- und Geschichtsverein Ulmbach erwartet uns.

Ruth wird von Andrea Euler interviewt.

Eine Mitarbeiterin der Kinzigtal-Nachrichten schreibt über den Besuch. Die Alsfelder Allgemeine, der Gießener Anzeiger, die Oberhessische Zeitung und der Weser-Kurier, sie alle werden über Begegnungen mit der Zeitzeugin berichten. Längst hat auch Ruth Stern Gasten einen Notizblock gezückt. Ihr forschender Blick streift moderne, mehrfach umgebaute und alte Häuser, das Backhaus, die Bauerngärten und die viel befahrene Straße. Was ist geblieben? Wo mögen noch Spuren zu entdecken sein? Ihre Tochter und ihre Enkelkinder, die Verwandten in Südafrika und Israel, sie alle erwarten einen detaillierten Bericht.

Horst Kunz, der Ulmbacher Heimatforscher.

Mit Informationen aus erster Hand kann Horst Kunz nicht dienen. Seine Familie ist aus dem Sudetenland vertrieben und in Ulmbach angesiedelt worden, als er klein war. Ein Flüchtlingskind wie Ruth Stern Gasten. Was er über die Geschichte des Ortes weiß, und er weiß viel, das hat er von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen erfahren oder aus alten Unterlagen.

 

 

 

Sechs Söhne hatte die Familie, und jeder der sechs Brüder hatte eine Schwester. Wie viele Kinder waren es insgesamt? Mariechen Engel, das Post-Mariechen aus Ober-Gleen, hat Ahnenforschern gerne dieses Rätsel aufgegeben.

„Das ist wie bei der Familie deiner Mutter“, sagt Sam Stone zu seiner Partnerin. Auch Maier und Fannie Nußbaum, geborene Adler, aus Ulmbach hatten sechs Söhne:

Vor dem Elternhaus von Ruths Mutter Hannah Nußbaum.

Jacob, geboren 1896, Salli, geboren 1900, Siegfried, geboren 1903, Benno, geboren 1906, Hermann, geboren 1910, und Leo, geboren 1912. Und alle sechs hatten eine einzige Schwester: Johanna, genannt Hannah, die 1898 auf die Welt gekommen war. Als der 56-jährige, siebenfache Familienvater 1918 an der Spanischen Grippe starb, war allein Jacob volljährig. Fannie Nußbaum, acht Jahre jünger als ihr Mann, führte die Vieh- und Fellhandlung weiter und kümmerte sich gemeinsam mit ihrer Tochter um den großen Haushalt und den Garten. Ihre Söhne Jacob und Siegfried waren Viehhändler, einer der wenigen Berufe, die die katholischen und evangelischen Bauern fast ausschließlich den Juden überließen. Fannies Zweitältester hatte seinen Laden in der linken Hälfte des Doppelhauses. Salli handelte mit Stoffen. Wie so viele damals zog er auch als Hausierer über Land.

Allein unterwegs zu sein, war für Händler nicht immer ungefährlich. Ein Jacob Nußbaum aus Ulmbach, vielleicht Ruths Onkel Jacob, ist 1931 unter die Räuber gefallen. Die Polizeimeldung aus der „Jüdischen Wochenzeitung für Kassel, Hessen und Waldeck“ vom 24. April 1931 steht im Internet auf Alemannia Judaica: „Schlüchtern. In der Nähe von Schlüchtern, unweit der Stelle, wo vor kurzer Zeit ein Raubüberfall auf ein Postauto verübt worden war, wurde ein schwerer Raubüberfallsversuch unternommen. Drei junge maskierte Burschen stürzten sich auf der Straße von Steinau nach Ulmbach auf den Viehhändler Jakob Nußbaum und forderten ihn zur Herausgabe seines Geldes auf. Durch das plötzliche Herannahen eines Motorrades verzichteten die Räuber jedoch auf die Ausführung ihres Planes und liefen eiligst davon, nachdem sie aus dem Hinterhalt noch mehrere Schüsse auf den Viehhändler abgegeben hatten, die aber glücklicherweise fehlgingen. Die Landjägerei in Verbindung mit der Landeskriminalpolizei in Frankfurt hat den Fall sofort aufgegriffen und weitere Untersuchungen angestellt.“ Wenige Jahre später beteiligten sich deutsche Behörden daran, jüdische Deutsche auszuplündern.

Vor der ehemaligen Haustür der Nußbaums.

Im Zuge der „Arisierung“ wechselten auch Nieder-Ohmener und Ulmbacher Häuser die Besitzer. Ulmbach war streng katholisch, was sich auch bei den Wahlen bemerkbar machte: Gut zwei Drittel der Wahlberechtigten aus Ulmbach stimmten 1933 für die katholische Zentrumspartei, ein Viertel für die NSDAP. Sozialdemokraten und Kommunisten bildeten eine kleine Minderheit. Als jüdische Ulmbacher ihre Häuser verkaufen mussten, um das Land verlassen zu können, hätten katholische Nachbarn gesammelt, um genug Geld zusammenzubekommen, hat Horst Kunz gehört. Die Eltern hätten ihren Söhnen verboten, jüdische Ulmbacher zu terrorisieren, doch die Hitlerjugend aus der Umgebung sei mehrfach angerückt. Als ein älterer Jude die Fenster seines Hauses vernagelt habe, sei für den Vater seiner Frau das Maß voll gewesen. Er habe den Mann eines Abends besucht und seine Schäferhunde mitgenommen. „Als die kamen, hat er gepfiffen, und die Hunde sind los.“ Das habe ein Nachspiel gehabt. Sein späterer Schwiegervater sei an die Front geschickt worden, obwohl er vom Militärdienst freigestellt gewesen war. Er kehrte aus dem Krieg zurück.

Vor der ehemaligen, jetzt baufälligen Synagoge von Ulmbach.

Vor jedem ehemals jüdischen Wohn- oder Geschäftshaus oder Grundstück bleibt unsere kleine Delegation stehen, auch vor dem der anderen Familie Maier Nußbaum und vor der baufälligen Synagoge, einem verschindelten, maroden Fachwerkhaus, dessen Tage gezählt sind. Einige Häuser sind längst abgerissen. Auch von dem jüdischen Kaufhaus, einem Fachwerkbau, ist nichts mehr zu sehen. Die katholische Kirche hat das Gebäude seinerzeit gekauft, Nonnen aus einem der Kloster lebten und arbeiteten eine Zeitlang dort. Heute spielen Kinder aus dem Flüchtlingswohnheim gegenüber auf der umzäunten Brache, im hohem Gras, unter gigantischen Sonnenblumen. Ruth Stern Gasten macht sich Notizen. Sie brennt darauf, endlich ihr Großelternhaus zu sehen. Oder das, was davon übrig ist, nachdem Mietnomaden weitergezogen sind.

Der linke Teil des Hauses gehörte Onkel Salli.

„Der Besitzer hat uns erlaubt, auf das Grundstück zu gehen“, sagt Horst Kunz. Das Betreten des Hauses aber ist zu gefährlich, und so begnügt sich Fannies Enkelin damit, einen Blick durch die halb blinden Scheiben zu werfen und sich unter dem hölzernen Vordach fotografieren zu lassen. Die rechte Haushälfte hat lange der Dorfhebamme gehört. Bei der Geburt der Frau von Horst Kunz hat sie geholfen und Jahrzehnte später auch bei den ersten beiden Kindern des Paares. Danach sei sie dann in Ruhestand gegangen, weiß Frau Kunz.

Unvermittelt kommt einer der Ulmbacher näher, die uns aus der Entfernung beobachtet haben. Ein Mann unbestimmten Alters mit wettergegeerbtem Gesicht. Seine Familie bewohnt Sallis früheres Häuschen, sein elfjähriger Sohn ist in Ulmbach geboren. Als er hört, wen er vor sich hat und wohin Ruth Stern Gastens Onkel emigriert ist, zieht ein breites Lächeln über sein Gesicht. „Dann haben wir also die Häuser getauscht“, sagt der gebürtige Palästinenser. Seinen Sohn habe er übrigens Yussuf genannt. „Die Hebamme hat mich gefragt, ob wir Juden sind. Weil das ein jüdischer Name ist. Warum nicht, habe ich ihr gesagt. Ich habe nichts gegen Juden.“

Vor dem Haus der anderen Familie Nußbaum, heute eine Fahrschule.

Im ländlichen Hessen dagegen war Antisemitismus schon im Kaiserreich und in der Weimarer Zeit weit verbreitet. Leo Nußbaum verließ Deutschland gleich nach der „Machtergreifung“, in dem Jahr, als seine Nieder-Ohmener Nichte auf die Welt kam. Der Ulmbacher emigrierte 1933 nach Südafrika und eröffnete eine Eisenwarenhandlung. Schon bald folgten seine Mutter Fannie Nußbaum, sein Bruder Jakob und seine Schwägerin Friedel, dann auch seine Brüder Benno und Salli. In Südafrika sei ihr Onkel Salli weiterhin hausieren gegangen und habe seine Waren an der Haustür und in entlegenen Dörfern verkauft, hat mir Ruth geschrieben. Weil Hermanns Arm bei der Geburt verletzt worden und gelähmt geblieben war, ließen ihn die Südafrikaner nicht ins Land. Er ging stattdessen nach Rhodesien, in das heutige Simbabwe, und arbeitete in einer Filiale von Leos Geschäft. Siegfried zog nach Palästina und wurde Milchbauer. Er belieferte Kunden in Tel Aviv.

Ruths Cousine Edith Karon, Bennos Tochter, denkt gerne an ihre Großmutter. „Ich habe Oma Fanny fast jeden Tag gesehen, als ich aufgewachsen bin“, schreibt sie auf Englisch, kaum dass die Arbeit an der deutschen Übersetzung von Ruths Buch begonnen hat. „Sie wohnte bei Onkel Sally, Onkel Jakob und seiner Familie. Nach der Schule war ich jeden Tag bei Carol. Meine Mutter holte mich ab, wenn sie und Tantchen Friedel von der Arbeit in der Metzgerei heimkamen. Oma Fanny ist gestorben, als ich sechzehn war. Sie sprach nur Deutsch, und deshalb konnte ich es auch gut. Ich verstehe es noch immer, aber leider habe ich es verlernt zu sprechen.“ Sie hat ihre Oma Fannie bewundert. „Sie war eine hochintelligente, hart arbeitende Frau mit großer Entschlusskraft und Energie. Ich erinnere mich, dass sie um fünf Uhr aufstand. Sie liebte es zu lesen. Ihre Söhne waren ihr alle sehr zugetan. Mein Vater besuchte sie jeden Tag nach der Arbeit auf dem Weg nach Hause. Am Sabbatmorgen habe ich sie gemeinsam mit meinem Vater auf dem Weg zur Shul (Synagoge) besucht.“ Auch Stan und Sonia, Ediths Kinder, haben viele glückliche Erinnerungen an ihre Kindheit. „Stan bedauert, dass meine Eltern nicht Deutsch gesprochen und ihm die Sprache beigebracht haben.“

Ruth in Nieder-Ohmen.

Auf Englisch und ein wenig Deutsch erzählt Ruth Stern Gasten im voll besetzten Nieder-Ohmener Konfirmandensaal gestenreich ihre Geschichte. Sara Mills, eine Freundin von Ruth, und ich übersetzen (die Originalaufnahme vom 2. September 2017 wird im Oktober in die Mediathek von www.monikafelsing.de gestellt). Aus Dortmund und Bremen sind sie gekommen, aus Frankfurt, Lauterbach, Alsfeld, Sellnrod, Butzbach, Ehringshausen, Ober-Gleen und anderen Orten, um die Autorin sprechen zu hören. Für einige, wie den ehemaligen Gemeindejugendpfleger Uwe Langohr oder die amtierende evangelische Kirchenvorstandsvorsitzende Regina Pfeiff und Irmgard Gückel von der katholischen Kirche, ist es ein Wiedersehen. Die Grundschulleiterin Monika Baranowski-Garden hatte die beiden Kalifornier schon am Tag zuvor mit einem Geschenk am Bahnhof erwartet und sie nach Ober-Gleen gebracht. „Die Kinder haben ein Buch für mich gemacht“, hat Ruth mit einem strahlenden Lächeln erzählt und diesen Schatz gut gehütet. Gustl Theiss, der Leiter der Gesamtschule Mücke, sitzt bei der Lesung im Konfirmandensaal, der Freundeskreis der Lagergemeinschaft Auschwitz ist vertreten, der Förderverein der Geschichte des Judentums im Vogelsbergkreis, der Alsfelder Geschichts- und Museumsverein und andere mehr. Der Jüngste ist vielleicht zehn Jahre alt, die Älteste, Elfriede Roth aus Lauterbach, über neunzig.

Elfriede Roth aus Lauterbach, die Älteste bei der Lesung. Ein Portrait über das einstige Schabbesmädchen von Rosa Weinberg, geborene Lamm aus Ober-Gleen, steht auf meiner Website.

 

Hannah war die letzte aus ihrer unmittelbaren Familie, die sich in Sicherheit bringen konnte. Gemeinsam mit ihrem Mann Joseph und ihrer fünf Jahre alten Tochter Ruth ging sie im Januar 1939 in Hamburg an Bord der „Deutschland“, nicht viel mehr im Gepäck als Kleidung, Bettwäsche, 75 Mark und die lebensrettenden Visa. Ihre verwitwete Tante Dinah, die in Chicago lebende Schwester ihres Vaters, hatte für die drei gebürgt. Als der Postbote die Papiere gebracht hatte, war Joseph Stern noch im Konzentrationslager Buchenwald. Nach der Pogromnacht war eine Verhaftungswelle gelaufen. Im Konfirmandensaal in Nieder-Ohmen erzählt Ruth Stern Gasten davon. Blass und still war ihr Vater zurückgekehrt, nachdem seine Frau in Stuttgart interveniert hatte. Er hat nie darüber gesprochen, was er im Lager gesehen und erlitten hat. Sein Bruder Meier und seine Schwägerin Hedwig wurden von den Nazis ermordet, auch die geistig behinderte Schwester Toni. Ruths Cousinen Hilda und Karola überlebten die Konzentrationslager. Eine junge Frau aus dem Publikum will wissen, ob Ruth Stern Gasten Angst hat vor den Neonazis in den USA und was sie über den neuen Präsidenten denkt. Ruth Stern Gasten horcht auf und tut erstaunt: „Wir haben einen neuen Präsidenten?“ Gelächter füllt den Saal. Es wäre doch zu schön.

Die Autorin, umrahmt von ihren beiden Übersetzerinnen.

Seit Trump im Amt ist, hat Ruth Stern Gasten ihren Einsatz für die Menschenrechte verstärkt. In Livermore hat sie im Februar 2017 eine Demo für die Liebe mitorganisiert, für ein friedliches Miteinander und Toleranz. Und seit sie, als Reaktion auf die Stimmung in den USA nach den Attentaten vom 11. September 2001, gemeinsam mit einem jungen Moslem eine Gruppe für Menschen aller Religionen gegründet hat, ist sie mindestens so oft in Moscheen und Kirchen wie in Synagogen. Im evangelischen Gotteshaus in Ober-Gleen spielt Veronika Bloemers am Tag nach der Buchpremiere Orgel für Ruth Stern Gasten und Sam Stone. Zwei Jahrzehnte hat sie in Israel gewohnt, Musik studiert, in Tel Aviv und Haifa Orgel gespielt, Chöre geleitet. Ihr Vater Ernst A. Bloemers, der in Deutschland, den USA, Frankreich und anderen Ländern Hotels gemanagt hat und seinen Lebensabend im Vogelsberg verbrachte, hat mit dafür gesorgt, dass die Erinnerung an die jüdischen Familien von Ober-Gleen nicht verblasst. In die Feldsteinmauer des Friedhofs sind Namenstafeln eingelassen worden. Auch die Synagoge ist restauriert. „Eli Eli“ ist am Tag der offenen Tür erklungen, begleitet auf einem Elektropiano. Für Ruth und Sam stimmt Veronika Bloemers „Hevenu Shalom Alechem“ auf der Barockorgel an, das berühmte hebräische Lied von der Sehnsucht nach Frieden. In Nieder-Ohmen haben alle zusammen „Happy birthday“ gesungen, weil Ruth Stern Gasten gerade erst Geburtstag hatte, „Hopp, hopp, hopp, Pferdchen lauf Galopp“, das Lied, das ihre Mutter ihr manchmal vorgesungen hat, und das Lieblingslied ihres Vaters Joseph Stern und ihres von den Nazis ermordeten Onkels Meier Stern: „Die Gedanken sind frei.“

Überall und zu jeder Zeit gibt es gute Menschen, wird Ruth Stern Gasten nicht müde zu wiederholen. Es komme auf jeden Einzelnen an, gerade auch in schrecklichen Zeiten. Auf Menschen wie Anna Reichel, die mit ihr im Dunkeln Schlitten gefahren ist, auf Emil Ohnacker, der die Kuh der Sterns gemolken hat, als der Familienvater im Konzentrationslager war. Und auf Nachbarn, die ihnen damals heimlich Streuselkuchen und Plätzchen auf die Türschwelle gelegt haben, um ihnen zu signalisieren: Ihr seid nicht allein.

Zeitzeuginnen und Zeitzeugen im Gespräch.

„Ich habe Emil Ohnacker gut gekannt“, meldet sich ein Zuhörer zu Wort, der Sohn des ehemaligen Pfarrers. Ein geradliniger Mensch sei er gewesen, dieser Nachkriegsbürgermeister, bei vielen angeeckt, aber ein guter, verlässlicher Freund. Als er Meier Stern in der Nazizeit in Frankfurt gesehen habe und auf ihn zugegangen sei, sei Ruths Onkel zurückgeschreckt: Er wollte den alten Bekannten nicht in Gefahr bringen. Einige von Emil Ohnackers Erinnerungen stehen in einem Buch von Heinrich Reichel, Annas Neffen: „Ich habe viele von ihnen gekannt! Das Schicksal der Jüdischen Einwohner von Nieder-Ohmen. Bemerkenswerte Ereignisse in Nieder-Ohmen während der Kriegsjahre 1939-1945“. Erhältlich ist es für zehn Euro bei der Evangelischen Kirchengemeinde Nieder-Ohmen.

Ruth und Sam bei Braurods in Ober-Gleen.

„Zufällig Amerikanerin“, die deutsche Ausgabe von „An Accidental American“ mit 60 Fotos von Familie und Freunden, gibt es für zwölf Euro im Buchhandel. Ehrenamtliche aus dem Bremer Geschichtsverein Lastoria haben die Veröffentlichung und Begegnungen mit Jugendlichen ermöglicht. Die Historikerin Christine Kausch, die uns über das Amsterdam-Projekt „Deutschland auf der Flucht“ verbunden ist, hat Ruth und Sam in Berlin begleitet. Und wie es der Zufall wollte, sind unter den ersten Leserinnen in Deutschland die beiden Enkelinnen des NS-Bürgermeisters von Ober-Gleen, die Tochter eines Gestapo-Mannes, eine Bremerin aus Nepal und eine Bremerin aus Peru. In Nieder-Ohmen, Ober-Gleen und Bremen kamen noch einige dazu. Und manche haben sich nach Ruths Auftritt vorgenommen, nun auch das englische Original zu lesen.

Einer von Ruths neuen Freunden: Egon Brückner aus dem Sudetenland ist in Ober-Gleen zu Hause. Sein Buch heißt „Mein Leben“.

Egon Brückner aus dem Egerland, der seit Kriegsende in Ober-Gleen wohnt und 2015 mit der Hilfe unseres Geschichtsvereins seine Biografie veröffentlicht hat („Mein Leben“), hat sich lange mit Ruth über sein Leben unterhalten, über Schicksalsschläge und Neuanfänge. Ihr sind die Tränen gekommen, aber er hat sie wieder aufgemuntert. „Meine Freundin Ruth“ nennt er sie und lacht herzlich. „Passt auf euch auf und bleibt gesund! Immer den Rucksack mit der Gesundheit gut zuschnüren, hat man früher bei uns gesagt.“

Bei unserem alten Nachbarn Karl Gemmer (Koads Kall) an der Hauptstraße oberhalb der Borngasse durften Ruth und Sam in den ehemaligen Kuhstall schauen. Ein Foto vom Fenster seiner Werkstatt schmückt Band 2 über Ober-Gleen: „Naut wie Ärwed“ (Nichts als Arbeit). Wie Karl Dialekt spricht, wie er erzählt, das erinnert Ruth ein wenig an ihren Vater. Beide, Egon und Karl, sind auf Originalton-CDs der Reihe „So klingt Owenglie“ von Lastoria zu hören.

Mit Karl Gemmer.

 

Mit Elayne und Isidor und meiner Mutter.

Elayne und Isidor Dracocardos haben dafür gesorgt, dass wir es in Braurods schönem alten Haus gemütlich hatten.

Auf der Treppe von Braurods Haus.

Der Sonntag nach der Buchpremiere war abwechslungsreich: Ruth und Sam waren auf dem Ransberg, in der Apfelplantage (Baamschdegg), im Ober-Gleener Wald, an der 500 Jahre alten Himmelbornseiche, im Kirtorfer Museum und bei der Vorstellung der neuen fünf O-Ton-CDs. Vor allem auch Veronikas Orgelkonzert und der Besuch bei Volker und Heidrun Schneider (Wähnesch) in Weidigs Gewölbekeller haben Eindruck gemacht. An diesem Ort hat der damalige Ober-Gleener Pfarrer und Sozialrevolutionär, der Herausgeber des „Hessischen Landboten“, Verschwörer aus Deutschland, Polen und Frankreich getroffen und heimlich Demokratiegeschichte geschrieben. Seine Ober-Gleener haben sich für ihn eingesetzt, als er verhaftet wurde. Die Bittschrift von 1835 für Weidigs Freilassung ist von der überwältigenden Mehrheit der Haushaltsvorstände unterzeichnet worden.

In diesem Gewölbekeller hat einst Friedrich Ludwig Weidig gesessen.

Auch im Norden waren die beiden Reisenden nicht nur als Touristen unterwegs, sondern haben neue Freundschaften und Bekanntschaften geschlossen. Erika Thies, eine der Korrektorinnen der deutschen Fassung, war ihre Gastgeberin. Ruth und Sam trafen meine Mutter wieder, begegneten Wolfgang Rulfs, Harry Barth, Annelie Stöppler und Willfried Meier. Christoph Bongert vom Deutschen Auswandererhaus hat die zwei herumgeführt, sie aufs Schiff begleitet, unter Deck und nach Amerika. 20 Jugendliche und ihre Lehrerin von der Edith-Stein-Schule haben die Autorin in Bremerhaven erwartet, ein Treffen, vermittelt von Rolf Stindl vom Friedrich-Bödecker-Kreis. Am nächsten Tag waren es dann 120 Schülerinnen und Schüler in der Wilhelm-Kaisen-Oberschule in Bremen-Huckelriede und am übernächsten Tag ebenso viele 16- bis 18-Jährige in der Oberschule Rockwinkel in Bremen-Oberneuland. Die Lehrerin Petra Niehardt (Wilhelm Kaisen) und der Lehrer Joachim Becker-Bertau (Rockwinkel) hatten spontan auf die Rundmail von Amnesty International Bremen reagiert. Für Ruth Stern Gasten sind Diskussionen mit jungen Menschen das Wichtigste überhaupt. „Demokratie ist kein Zuschauersport“, das sagt sie ihnen, und das hat sie auch in Nieder-Ohmen betont. Eine andere US-Amerikanerin hat etwas Ähnliches als Kind zu hören bekommen: „Demokratie ist wie Zähneputzen“, pflegte die Mutter von Gloria Steinem zu sagen. „Man muss es täglich machen.“

Ruth Stern Gasten hat 2015 einen Vortrag der gleichaltrigen Autorin, Feministin und Demokratin besucht. Ihre Notizen hat sie mir vor der Deutschlandreise geschickt: Benjamin Franklin lud drei Stammesälteste der Irokesen ein, an der Konferenz teilzunehmen, in der die amerikanische Verfassung geschrieben werden sollte. Sie fragten: “Wo sind die Frauen?“ Und: Falls du einmal an einem Ort bist, an dem Lachen verboten ist, bist du am falschen Ort. Und: Die Leute fragen mich, wann ich die Fackel an die nächste Generation von Feministinnen weitergeben werde. Ich behalte meine Fackel und benutze sie, um andere Fackeln zu entfachen.

„Die Freiheit erleuchtet die Welt“ von Auguste Bartholdi. Ein Geschenk des französischen an das US-amerikanische Volk. Der Monumentalbildhauer aus dem Elsass war Jude. In Colmar erinnert ein Museum an ihn.

Auch wenn sie „zufällig Amerikanerin“ geworden ist, hält Ruth Stern Gasten die Fackel hoch. Das mag mit dem allerersten Eindruck zusammenhängen, den die damals Fünfjährige von den USA hatte. Es ist eine ihrer schönsten Erinnerungen überhaupt: An Deck der „Deutschland“ lagen sich die Passagiere nach der stürmischen Überfahrt in den Armen, sie lachten, weinten oder waren einfach nur glücklich und gerührt. Die Freiheitsstatue hieß sie alle willkommen. Doch das Gefühl, unter Freunden zu sein, hielt nicht sehr lange an. Im Hort riefen andere Kinder „Nazi“ hinter Ruthie her, weil sie aus Deutschland kam. Daran fühlt sie sich erinnert, wenn syrische oder afghanische Jugendliche als „Terroristen“ beschimpft werden, obwohl sie doch vor dem Terror geflohen sind. Die Geschichte von dem Jungen, der ihr damals geholfen hat, wird heute in den USA im Schulunterricht behandelt. Nicht als modernes Märchen, sondern als Lebenserfahrung: Etwas Besseres als die Bosheit findest du überall.

Monika Felsing im September 2017

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